Pia Troxler
Schrift­stellerin

Zum Mond

 

Die Kurzgeschichte "Zum Mond" ist Grundlage des 1. Satzes von insgesamt 5 Sätzen der Suite für Orchester "Rêveries Nocturnes".

Audiodateien "Zum Mond" und aller 5 Texte, die Grundlage von "Rêveries Nocturnes" bilden.
Das Booklet "Reveries Nocturnes Die Texte" mit den 5 Texten gibt es gedruckt und online.

Text "Zum Mond" (= 1. Satz von "Rêveries Nocturnes"):
"Aimie lag wach. Wieso das, wunderte sie sich, sonst schlief sie stets zu dieser Zeit. Da schaue ich mir die Welt mal bei Dunkelheit an, dachte sie, schlüpfte unter der Decke hervor und ging nach draußen. Sie staunte nicht wenig. War das doch ein Traum? Die Bäume hatten ihre Farben verloren. Die Stämme, die Äste, alles war in Dunkelheit getaucht. Verwundert schaute Aimie hinauf in die Baumkronen. Ihr Grün, wo war ihr Grün? Stattdessen kamen sie ihr noch höher, noch mächtiger vor als jeweils am Tag. Aimie lief neugierig hinter das Waldhaus. Hier stand alles weniger dicht, doch statt grün mit Blüten gelb und rot waren die Bäume auch hier nur mehr oder weniger dunkel. Doch was war da?

Durch die Blätter des Streichholzbaumes leuchtete ein starkes, grelles Licht. Aimie kniff die Augen zu, blinzelte. Das Licht blendete nicht. Voller Verwunderung sah sie etwas wie einen Faden, einen gebogenen Faden, der grell weiß durch die Blätter gleißte, etwas wie die Handsichel, mit der sie jeweils das Gebüsch auslichteten. Doch es war eine leuchtende Handsichel. Noch niemals hatte Aimie ein derart bezauberndes Licht gesehen. Sie hörte nicht mehr auf, die Sichel anzuschauen, bewunderte sie, saugte ihr Bild in sich ein, war hingerissen. Auf Wiedersehen, hübsche Sichel, sagte sie, als ihr Hals vom Hinaufschauen zu schmerzen begann, riss sich los und ging ins Bett zurück. Glücklich schlief sie ein.

Am andern Tag konnte sie nicht aufhören, allen von ihrem nächtlichen Erlebnis zu erzählen. Und wirklich, es war kein Traum gewesen. Sie erfuhr, dass es ein Sichellicht gab in der Nacht, und dass dieses Licht Mondsichel hieß und dass diese Sichel Nacht für Nacht eine Spur wuchs bis sie kugelrund war. Das sei der Mond, der Mond mit seinen Phasen, erfuhr sie und ließ keine Gelegenheit aus, sich mit diesem bezaubernden Licht zu verbinden. Mit der Sichel tanzte sie, im Halbmond badete sie, bei schlechtem Wetter weinte sie. Dazu bat sie alle, ihr zu erzählen, was immer sie über dieses Licht wussten. Ein Satellit sei das, ein Erdtrabant, erfuhr sie und wunderte sich: Ein Himmelskörper aus Stein und Staub, der leuchtete? Seit sie ihre Entdeckung gemacht hatte über dem Zündholzbaum hinter dem Haus, kannte sie nichts Faszinierenderes als diese Luna, diese Selina, Miranda, die Hila, den Mond mit seinen Schäfchen, den einsamen Wanderer der Nacht, die Nussschale am Himmel, den Ballon, den vollen, den Zitronenschnitz. Sie wollte zu diesem Mond.

Wünschen hilft, daran glaubte Aimie fest, und sie wünschte und wünschte. Doch wie kam sie zum Mond? Schaute sie bei Vollmond hinauf, kam ihr der Weg nicht unendlich weit vor. Trotzdem, keine Leiter war lang genug, kein Weg ersichtlich, nur dunkle Nacht, endlos. Die Eltern belächelten Aimies Wunsch, manchmal trösteten sie und sagten, wer etwas wirklich wünscht, bekommt es. Dann wartete Aimie am Abend mit neuem Mut auf ihr Herzenslicht, begrüßte es, bestaunte seine Schönheit und sah zu, wie es hoch und höher hinaufstieg und leuchtete. Nur schien und blieb es unendlich weit entfernt und unerreichbar. Sichel, Kugel, liebes Licht, sagte Aimie eines Nachts, ich zu dir, das schaff ich nicht; komm du herab. Und sie zog die Sichel zu sich, trank von ihrer Kraft und sprach mit ihr. Wann immer ihre Sehnsucht ins Unermessliche stieg, wartete sie am Abend auf die Dunkelheit, sagte Sichel, Kugel, liebes Licht, und holte den Mond zu sich. Solange sie nicht hinauf konnte, wollte sie ihn auf diese Weise zu sich holen.

Aimies Herzenswunsch blieb, und wuchs. Immerzu fragte sie den Mond, die Tiere, die Eltern, alle um Rat. Selbst den Streichholzbaum und andere Bäume fragte sie, unermüdlich: Wie komme ich zum Mond? Aimie war sich ganz sicher. Eines Tages kam sie hinauf zum Mond."                                        Version Mai 2025   
                               © Pia Troxler, argovia philharmonic, Aargauer Literaturhaus Lenzburg

 

(Die Kurzgeschichte "Zum Mond", wie alle fünf Texte, die Grundlage und Inspirationsquelle von "Rêveries Nocturnes", Suite für Orchester, des Komponisten Rodolphe Schacher bilden, ebenso die Komposition "Rêveries Nocturnes" selbst, verdanken sich einem Projekt des Verbandes Schweizer Berufsorchester, www.orchester.ch. Beteiligt waren argovia philharmonic, Aargauer Literaturhaus Lenzburg und 10 Autor:innen. Großes Dankeschön!)

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