Pia Troxler

Virtuell (V2)

 

"An diesem Morgen stapfte Hablatt besonders früh durch die Steinwüste. Er war weder irre noch faul. Die Kollegen wussten, dass er ein Unterhaltungsprogramm nach dem andern erfand, und jedes tadellos ausführte. Der Wind wehte Staub durch die Einöde. Es war trocken und kalt, so wie immer auf dem Planeten Megara. Als er sich dem Laboratorium näherte, riss die Wolkendecke über dem Gebäude auf, und hinter dem ewigbraunen zeigte sich ein weiterer Himmel. Wieder so etwas Sonderbares, Unverständliches! Nicht verzweifeln! Er nahm es als gutes Omen für die bevorstehende Konferenz. Sie war gut vorbereitet, Bilder, Videos, 2-D-, 3-D-Programme, für jede Frage war er gewappnet.

Surrend öffnete sich vor ihm die Glastür. Die Chromwände vibrierten im Takt der Motoren und Generatoren. In und über allem das dumpfe Dröhnen, beruhigend monoton. Sein Blick glitt durch die Eingangshalle. Raum E-XII war besetzt, Scholl arbeitete bereits. Hablatt durchquerte die Halle und betrat sein Labor. Die Kontrollmonitoren liefen normal. Er nahm an seiner Workstation Platz. Im Nu hatte er einen großzügigen Konferenzraum programmiert. Nochmals klickte er sich durch die vorbereiteten Bilder und Programme. I.O. Er befestigte die Brille S-PLUS, eine mit Zubehör für Sitzungen, und stellte die 3-D-Kamera ein. Konferenz in.

Augenblicklich fand er sich in seinen virtuellen Konferenzraum versetzt. Hallo, eins, zwei, drei. Tonqualität gut. Er probte Schritte. Alles Okay.

Nach und nach schalteten sich die Kollegen hinzu. Dreizehn Elektroiden nickten, grüßten, setzten sich. Hablatt projizierte seine Zwerggalaxie auf die 360°-Kulisse. Hier Fähren für Raumflüge, gleich daneben die Vergabe von Anzügen und Spezialausrüstungen. Nach knappen Erklärungen, ohne Vorwürfen Raum zu lassen, begann er mit der Geschichte seiner Entdeckungen.

Es sei der 17. Testtag gewesen, kurz vor der Patentierung des Programms, als die Störung zum ersten Mal aufgetreten sei. Er betonte: die Störung. Von Fehler könne keine Rede sein. Sie sei minimal gewesen zunächst, habe sich aber hartnäckig wiederholt und verstärkt. Was also spielte sich ab?

Die Zwerggalaxie fungiere als Antenne für unbekannte Strahlen. Diese würden wie ein leises Beben durch das Programm ziehen, wobei sie es für Sekundenbruchteile lähmten. Die Unterbrechung, so gering sie auch war, konnte einen Programmkollaps auslösen, oder es waren andere, womöglich noch schlimmere Folgen zu befürchten. Zudem blieb auch er, Hablatt, von der Lähmung nicht verschont, wenn er sich zu dem Zeitpunkt in der Zwerggalaxie aufhielt, in dem sie mit den fremdartigen Strahlen in Berührung stand. Der Störeffekt zeige Dimensionen, die der Elektroindustrie Megaras unbekannt seien.

Die üblichen Analysen hätten nur die Rätselhaftigkeit des Phänomens bestätigt, erklärte er. Erst komplizierte Kontrollen und Suchläufe hätten auf ein fast unbekanntes Programm als mögliche Ursache der Störung hingewiesen. Tatsächlich fand er in diesem Spuren der seltsamen Strahlen. Das Programm handle von einem kuriosen Planeten, der nur wenig größer war als Megara, ein heißwarmes Klima besaß und Hominiden sowie eine Vielzahl hominidenähnlicher Wesen beherberge. Die Hominiden bewegten sich auf zwei, die Hominidenähnlichen auf zwei, vier oder noch mehr Beinen über den Boden oder mit zu Schwingen umgestalteten Armen durch die Luft. Als weitere Spezialität kämen immobile Gewächse in großer Zahl und äußerst fantasiereichen Varianten vor. Genau diese unterschiedlichen Körper und Gebilde würden die Strahlen aussenden, welche die Zwerggalaxie zu stören und zu lähmen vermochten, schloss Hablatt seine Ausführungen.

Er stakste an den Sesseln und Bänken der Kollegen vorbei. Außen auf der 360°-Kulisse rauschte das Weltall. Ein elektronischer Astronaut flog kunstvolle Muster. Hablatt beachtete ihn kaum. Er wartete auf eine Frage, oder auf Begeisterung für die merkwürdigen und merkwürdig strahlenden Erfindungen, von denen er den Kollegen berichtet hatte. Schon wollte er die schweigenden Elektroiden mit Bildern zu dem bewegen, was ihm mit Worten nicht gelungen war, als Scholl sich bemerkbar machte. Meines Wissens ist das Planetenprogramm, von dem Sie sprachen, hoffnungslos veraltet, wandte sich Scholl nüchtern an ihn.

Diese Type kannte sogar die alten Kassetten, durchzuckte es Hablatt. Gefasst antwortete er: Ja, das stimmt, unser Programm über diesen kuriosen Planeten ist veraltet. Eine schlechte 2-D-Produktion, seit Jahrzehnten unbenutzt. Doch meine Nachforschungen in anderen Sternsystemen brachten Neueres in besserer Qualität ans Licht. Ihr werdet euch wundern.

Blitzschnell wählte er die Bilderfolge von Hominiden. Gleichzeitig mit der Projektion brach im Konferenzraum heftiges Gelächter aus. Aufrechte Körper, ungleich vielseitiger als die Elektroiden, zwar bloß in 2-D dargestellt, doch rasch aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt, erschütterte die Wahrnehmung der Kollegen. Ihre Glieder bebten und schepperten vor Lachen.

Hablatt erfindet Trickkörper, die ihre Knie bis zur Stirn hochziehen, die Arme wie Schläuche um sich legen können. Besonders kurios, sie tragen statt Antennen den Kopf voller Fäden. Wirklich eine gelungene Überraschung. Gute Arbeit, Kollege.

Hablatt wurde heftig. Was er vorführe, habe nicht er erfunden. Er sei und bleibe Weltraumspezialist. Wie gesagt, habe er die merkwürdig strahlenden Körper der alten 2-D-Kassette in anderen Programmen gesucht. Seine Bilder stammten aus einem Unterhaltungspaket, das in der Andromedagalaxie angeboten werde.
Ha, sich von der Arbeit freisetzen lassen, um Konkurrenzprogramme zu konsumieren, welch grandiose Forschungstätigkeit! Gnade der Programmindustrie Megaras!

Hablatt beantwortete die Sticheleien mit Bildern, Fernansichten eines Planeten, auf dem so genannt biologisches Leben angesiedelt war. Dazu projizierte er in rascher Folge unterschiedliche Wesen. Faden- und Buschköpfige auf zwei, von Minifäden überzogene Körper auf vier Beinen, teils solche mit spitz zulaufenden, sogar nassglänzenden Riechteilen. Auch üppige, kleine und große immobile Formen zeigte er, Bild für Bild einzeln oder gleich mehrere nebeneinander.

Nur dank unterirdischen Höhlen hätten die Hominiden zusammen mit zahlreichen anderen Gebilden einen Klimakollaps überlebt, erklärte er den Elektroiden. Die Hominiden würden nun biologische Impulse kultivieren, nicht mehr elektrische und elektronische, und aufwändige Biotope züchten, um sich und ihren Planeten vor Hitze und Trockenheit zu schützen.

Während seiner Ausführungen sprang Krugster plötzlich auf. Das sind ..., das sind Dummheiten, ich ..., platzte er heraus. Er verstummte und betrachtete nur noch halb befremdet, halb fasziniert die Bilder auf der Kulisse.
Die andern Elektroiden, unschlüssig, ob sie lachen oder Hablatt Einhalt gebieten sollten, schauten verwundert zwischen Krugster und der Vorführung hin und her. Hablatt entschloss sich, die Projektionen auch noch zu bewegen. Auf der 360°-Kulisse begann sich alles zu regen, ein Trampeln und Pusten, Schwingen und Gleiten entstand.
Krugster setzte sich entgeistert hin und fiel in eine Lähmung.

Hablatt schaute selbst immer faszinierter. Diese Körper, welche Vielfalt! Ihr Anblick ließ ihn stets von neuem erschaudern. Hominiden glitten elegant federnd vorüber, auf dem Kopf ihre fädigen Gewächse, die Fingerspitzen bunt bemalt. Jeder von ihnen sah anders aus, und doch waren alle irgendwie gleich. Er musste das Relaxprogramm einschalten. Tatsächlich kämpfte er mit der bekannten Lähmung. Er taumelte, fasste sich und merkte, dass die Kollegen begierig auf neues Material warteten. Er war weit davon entfernt, ihnen etwas von seinen Entdeckungen vorzuenthalten. Der Zeitpunkt für einen 3-D-Ausflug in ein Biotop war gekommen.

Er vergaß nicht, die Handzeichen in Erinnerung zu rufen. Daumen an Daumen, Programmwirklichkeit eins, diesmal die virtuelle Konferenz. Zeigefinger an Zeigefinger, Programmwirklichkeit zwei, das Biotop. Alles okay?
Zeig an Zeig.

Augenblicklich standen die Elektroiden ungelenk auf weichem Grund. Taumelnd hielten sie sich aufrecht. Einige fanden bei den säulenartigen Unterteilen hoch aufragender Gewächse Halt. Es faszinierte sie, wie sich die rauen Stützen über ihren Köpfen zu dünneren und immer noch dünneren Stängeln und Stängelchen verzweigten. Auch die rundlichen, feinen, meist grünen Plättchen, von denen manche in verschwenderischer Fülle übersät waren, fanden ihre Bewunderung. Alles schien in ständiger Bewegung zu sein, und die Stängel und Plättchen gaben zudem die merkwürdigsten Geräusche von sich. Hablatt sah zu, wie die Kollegen ihre Wahrnehmungsintensität regulierten. Erstaunlich schnell fanden sie sich im Programm zurecht. Sie erstarrten nicht. Im Gegenteil. Das Wiegen und Säuseln und Duften erfasste sie. Ihre Ungelenkigkeit verlor sich. Sie bewegten sich zunehmend sicherer und eleganter und schauten einander begeistert an.

Nach einer Weile ertönten neue Geräusche. Berauschende Töne für die Elektroiden.

Auf einer Lichtung tummelten sich Hominiden, einige von ihnen in einer flüssigen Substanz. Immer wieder verzogen sie ihre Gesichter und stießen Laute aus, die sich zu kunstvollen Tonreihen fügten. Durch weißliche Wolken funkelte grelles Licht. Die Programmierer schauten sehr interessiert. Auch winzige Hominiden, die in Stoffe gewickelt auf den grün überzogenen Böden oder in schmucken Kisten mit vier Rädern lagen, zogen ihre Aufmerksamkeit an. Und überall stelzten röhrchenbeinige Wesen mit meist farbiger Federbekleidung herum.

Zu spät wollte Hablatt seine Kollegen warnen! Die Lähmung erfasste sie. Mit letzter Kraft, geistesgegenwärtig, drückten sie die Daumen aufeinander. Im Konferenzraum betasteten sie beunruhigt ihre Glieder. Erst als sie auch alle Sensoren kontrolliert hatten, streckten sie sich in den Sesseln aus.

Mit dieser Vielfalt hatten sie nicht gerechnet. Das Biotop sei fantastisch. Zahllose Formen, auch viele runde und längliche, und Materialien, die ihnen ganz unbekannt waren. Besonders auffällig, kein Chromstahl und Stahl, keine Stecker, keine Drähte. Dazu ein meisterhaftes Sinnenpanorama, beinahe zu ausgeklügelt für Elektroiden. Selbst die Gerüche schienen unerschöpfliche Nuancen zu besitzen. Von wem stammte dieses Programm? Es war ein Meisterwerk.

Hablatt wollte ihnen weitere Köstlichkeiten vorführen. Sie hätten noch wenig gesehen, erklärte er. Man könne sich den Hominiden nähern. Wenn man ihnen gegenübertrete, würden sie einem die Hand hinstecken, die bei allen weich und warm sei. Einige hätten ihn an abgelegene Plätze geführt, wo farbige Kügelchen an Stängeln hingen. Die Hominiden würden diese Kügelchen abreißen, in der Öffnung unter dem Riechteil zerquetschen und in sich verschwinden lassen. Auch hätten sie ihn in jener flüssigen Substanz sich bewegen gelehrt, was schwimmen heiße. Alle Hominiden könnten schwimmen. Das biologische Leben sei phänomenal. Er geriet ins Schwärmen. In einem der Programme aus der Andromedagalaxie besäßen die Hominiden so genannte Ein- und Zweiräder, erzählte er. Auf diesen würden sie quer über den Planeten oder in Gängen durch ihn hindurchfahren. Auch Feste würden sie feiern, gar nicht so selten, an denen sie eine Fülle kleiner Rechtecke und Kugeln, sogar Türmchen in sich hineinsteckten, während andere, wie die Hominiden im Biotop, klangvolle Tonreihen ausstoßen würden.

Mitten in Hablatts Begeisterungssturm ergriff Kollege Scholl das Wort.

Nichts gegen ihre Entdeckungen, Hablatt, sagte er. Ich weiß das zu schätzen. Doch ich an Ihrer Stelle, ich hätte die Zwerggalaxie entstört, dazu für sämtliche Programme neue Sicherheitssoftware entwickelt, und dann den Strahleneffekt, den diese biologischen Wesen auszulösen vermögen, rasch und für immer vergessen. Sie sind Spezialist für Weltraumprogramme, ein verdienter, wohlverstanden. Begeben Sie sich nicht auf Irrwege.
Krugster hatte die Konferenz aufmerksam verfolgt, nachdem er sich von der Lähmung erholt hatte. Die Worte Scholls schienen ihm zu behagen, er nickte und begann umständlich zu gestikulieren. Ich verstehe Hablatts Faszination für das biologische Leben auch nicht, erklärte er. Das ist alles, was ich an dieser Konferenz noch zu sagen habe.
Die andern lobten die außerordentliche Qualität der Programme, die Hablatt aufgestöbert hatte, und betonten, dass diese doch bereits existierten. Ob er etwa die Sensorik der Elektroiden verbessern wolle? Oder was er eigentlich beabsichtige?

Hablatt ärgerte sich über so viel Unverstand. Sicher beabsichtige er nicht, weitere Programme mit biologischen Körpern zu erfinden, noch wolle er die Sensoren oder gar das Sensorium der Elektroiden optimieren. Er wolle die seltsamen Impulse, die von biologischen Wesen ausgingen, weiter ergründen. Sie besaßen die Fähigkeit, ein derart perfektes Programm wie seine Zwerggalaxie zu stören und Elektroiden einfach zu lähmen. Das sei doch allerhand.
Ohne sein Interesse an diesen außerordentlichen Strahlen zu teilen, verließen die andern Elektroiden einer nach dem andern die Konferenz. Hablatt nahm es nur nebenbei wahr. Ihm war etwas aufgefallen. Er projizierte nochmals das Biotop auf die Kulisse. Tatsächlich. Über dem vielen Grün leuchtete ein blauer Himmel. Erst jetzt wurde es ihm klar. In den Programmen, die diesen kuriosen Planeten mit seinen biologischen Körpern zeigten, wurden die Wolken oft hell und der Himmel dahinter blau oder blassblau dargestellt.

Plötzlich hegte er eine Vermutung. Die biologischen Körper und Gebilde in ihrer ungeheuren Vielfalt, diese durchscheinende Flüssigkeit, die die Hominiden so mochten, all die berauschenden Geräusche und Gerüche, der blau leuchtende Himmel anstelle einer trüben Hülle, an dem das Sonne genannte Energiezentrum teilweise, wenn auch mit schmerzhafter Intensität direkt zu sehen war, das alles entsprang nicht der Fantasie eines Programmierers. Ebenso war es nicht das Resultat eines Programmierprogramms. Es war zu vielfältig, zu einfallsreich, zu ausgeklügelt.

Rasch verließ auch er die Konferenz. An seiner Workstation studierte er die Bilder, die 2-D- und 3-D-Programme, alles, was er gefunden und gesammelt hatte, nochmals und noch genauer. Dazu konsultierte er Sternkarten und erstellte Listen, auf denen er alle bekannten Himmelskörper übersichtlich nach Größe und Beschaffenheit aufführte.
Ja, seine Vermutung bestätigte sich.

Zwei Galaxien entfernt, in einem Sternsystem der Milchstraße, fand er den betreffenden Planeten. Er war wenig größer als Megara und beherbergte Hominiden und anderes biologisches Leben. Ohne Zweifel war er Pate gestanden für die ausgezeichneten Programme.

Hablatt hatte es geahnt. Etwas derart Merkwürdiges wie dieser kuriose Planet mit seinen Körpern und Gebilden überstieg die Erfindungskraft des kühnsten Programmierers." © Pia Troxler

(V1 von "Virtuell" ist publiziert in: Pia Troxler, Die Verwünschung. Erzählungen und Kurzgeschichten, Zürich: Kralle Verlag, 1994, S. 39-45) 

 

 

 

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